Die letzte Schauspielproduktion der Spielzeit 24/25 feierte am 21. Juni 2025 Premiere auf der Probebühne 4: „Lenz geht live“, eine moderne Bearbeitung des Büchner-Stoffs durch Autorin Elisabeth Pape. In der Inszenierung von Marie-Theres Schmidt wird kritisch der Umgang mit psychosomatischen Krankheiten, das überlastete Versorgungssystem und der Selbstoptimierungswahn unserer Gesellschaft beleuchtet.
Lenz wandert alleine ins Gebirge in der Hoffnung, ihren Seelenfrieden (wieder) zu finden. Die sie umgebende Natur ist atemberaubend, nimmt ihr aber in einem Maße die Orientierung, dass sie in Panikattacken ausbricht – sie findet sich gefangen in einem Auflösungsprozess, den sie nicht aufhalten kann. Sie ist auf der Flucht, aber ihre Dämonen folgen ihr. Um sich nicht vollends zu verlieren, postet sie Gedichte und Fotos auf Social Media. Aber die Bilder verrutschen ihr, zeigen seltsam unscharfe Ausschnitte, die Texte können ihren Zustand nicht beschreiben, geschweige denn erleichtern. Und gleichzeitig dringen die Nachrichten aus der Community nicht zu ihr durch: Kein Empfang? Die Isolation fühlt sich gigantisch an.
Lenz sucht Ruhe, eine Pause für ihren erschöpften Kopf und Hilfe durch die spirituelle Anleitung einer Body-and-Mind-Influencerin, einer Art Guru der Seelenreinigung, die ihre Ratschläge („Mindfulness-based-Stress-Reduction“) digital und für die ganz Mutigen auch in Präsenz inmitten der Berge anbietet. Doch die Begegnung mit Lenz ist eine Herausforderung für Oh_Berlin (Jana Gwosdek), an der diese schnell zu scheitern droht.
Regisseurin Marie-Theres Schmidt inszeniert in einem reduzierten, klinisch weißen Bühnenbild (Christina Pointner), das mit seinen Aufbauten die Bergwelt annehmen lässt, in der Lenz (Paula Schindler) auf Wanderung zur Selbstfindung ist – doch mit seiner Optik wähnt es ein Psychatrie- Setting. In ihrer Interpretation geht es viel um individuelle Wahrnehmung versus Realität, dieGrenzen verschwimmen, greifen mit dem sich verschlechternden Krankheitsbild von Lenz zunehmend ineinander. Um diese Entwicklung auch szenisch zu verdeutlichen, kommen Projektionen und Filmsequenzen (Britta Bischof) zum Einsatz und Musiker Christian Meyer gestaltet eine entsprechende Soundatmosphäre. Was zuerst vielleicht eine depressive Verstimmung war oder Verzweiflung angesichts der hohen Erwartungen der Leistungsgesellschaft, ihres Umfeldes und ihrer selbst, wächst unbehandelt – denn einen Therapieplatz zu finden, war für Lenz bisher unmöglich – zu einer Schizophrenie mit Psychose heran. Lenz' erster Impuls, bevor es so schlimm wurde: Rucksack packen und los; raus in die Natur, zur inneren Mitte finden, am eigenen mindset arbeiten, googeln, Podcasts hören, Tipps und Strategien von mindfluencern und healing choaches verfolgen. Doch so schleppt sie in ihrem schweren Rucksack ihre Last nur mit, entfernt sich sogar immer weiter von Menschen, die ihr nah sind, und von medizinischer Versorgung. Es wird deutlich: Was gesunden Menschen helfen mag, in ihremAlltag zu mehr Gelassenheit zu finden, ist keine adäquate Therapie für eine ernstzunehmende psychische Erkrankung – die Isolation auf Lenz' Selbstfindungsweg und vor allem in ihrem Inneren tut ihr übriges. Oh_Berlin, ganz in weiß gekleidet, mit sanfter Stimme ihrer community begegnend (Kostüme: Carolin Quirmbach), scheint ihr Zen gefunden zu haben – doch auch das 1|2wird leise hinterfragt. In jedem Fall jedoch, reicht ihr spiritueller Achtsamkeitsansatz nicht aus, um Lenz zu erreichen oder ihr gar zu helfen – trotz vermeintlich bester Intention –, und der Moment, echte Verantwortung zu übernehmen und Hilfe zu leisten, darf nicht verpasst werden, geht aber schnell vorüber. Ein Abend, der das Bewusstsein schärft für die Ernsthaftigkeit und Tragweite psychiatrischer und psychosomatischer Erkrankungen.
„Büchners Erzählung 'Lenz' konzentriert sich auf die Entfremdung von der Realität des Hauptprotagonisten Lenz. Hierbei stützt sich Büchner auf die wahren Erlebnisse des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz. Charakteristisch sind die hochpathologischen Zustände und gravierenden Wahnvorstellungen des jungen Lenz in Büchners Erzählung. Mein Lenz, wird meinE Lenz – eine weiblich gelesene Person. Ich siedle sie in der Gegenwart an“, sagt die Autorin: Elisabeth Pape, Jahrgang 1995, hat Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin studiert. Für das Theater Koblenz hat sie 2022 Tschechows „Der Kirschgarten“ neu bearbeitet und ergänzt. 2023 erhielt Elisabeth Pape das Leonhard-Frank-Stipendium vom Mainfranken Theater Würzburg sowie den Kleist-Förderpreis für ihr Stück „Extra Zero“. „Lenz geht live“ ist ein kluger und zugleich aufwühlender Text in Anlehnung an die Erzählung von Georg Büchner aus dem Jahre 1839, der in der Frage nach dem spirituellen Selbst, in der Angst davor, den Verstand zu verlieren und sich selbst zu zerstören, bedrückend aktuell ist.
Die nächsten Vorstellungstermine sind der 25.|26.|29.|30. Juni und der 1.|2. und 3. Juli 2025. Karten sind an der Theaterkasse oder auf www.theater-koblenz.de erhältlich.